End the Stigma: Ich bin depressiv – und jetzt?
Volkskrankheit Depression
Laut Angaben des Bundesgesundheitsministerium erleidet in Deutschland jede*r hundertste
mindestens einmal im Laufe seines* ihres Lebens eine Depression oder eine chronisch
depressive Verstimmung. FINTA häufiger als Männer, Ältere häufiger als Jüngere.
Man sollte meinen, Betroffene einer Krankheit, die so viele Menschen betrifft, würden in der
Gesellschaft und vonseiten der Politik mehr Akzeptanz erfahren. Doch dem ist nicht so.
Betroffenen von psychischen Erkrankungen, seien es jetzt Depressionen oder eine andere,
begegnen im Alltag dutzenden Schranken. Von einer mal mehr, mal weniger starken
gesellschaftlichen Abschottung, teureren Versicherungen, bis hin zu versperrten Chancen im
Berufsleben. All das wegen eines Faktors, den sie erstens nicht beeinflussen können und
der sie zweitens bereits genug herausfordert, ohne zusätzliche gesellschaftliche
Einschränkungen.
Soweit zum Status Quo, aber das ist ja immer noch ein Blogeintrag. Ich hatte bis vor einem
Jahr vor, später mal Lehrer, im besten Falle ein verbeamteter Lehrer, zu werden. Von diesem
Plan bin ich zwar ohnehin bereits abgewichen, doch musste ich dort schon merken, was es
heißt, aufgrund seiner psychischen Erkrankung – oder in meinem Fall, meiner Depression –
bestimmte Dinge nicht in Anspruch nehmen zu können. Hätte ich mein Lehramtsstudium zu
Ende geführt und wäre schlussendlich irgendwann Lehrer geworden, hätte ich spätestens
dort ein Problem gehabt: Ich gehe nämlich in Therapie. Der deutsche Beamt*innenapparat
ist bisweilen darauf ausgelegt, nur solche in ein lebenslanges Beamt*innenverhältnis
aufzunehmen, von denen zu erwarten ist, dass sie bis zum Ruhestand ihre jeweilige
Berufung ausüben und dem Staat dienen können. Bei Personen mit (diagnostizierten)
psychischen Erkrankungen ist das aber nicht immer zu garantieren. Das sollte eigentlich
keine große und überraschende Erkenntnis sein und auch kein Problem. Wer kann in einer
immer schnelllebigeren und sich immer mehr wandelnden Welt schon von sich behaupten,
über 40 Jahre lang denselben Beruf auszuüben? Aber wir reden hier immer noch von
Deutschland und seinem Hang zu alt“bewährten“ Strukturen. Ich kann mich noch immer an
eine meiner ersten Therapiestunden erinnern, als mir meine Therapeutin schon recht früh
mitteilte, sie werde die ärztliche Verdachtsdiagnose „Depression“ auf keinen Fall bestätigen.
Dies würde mir gegebenenfalls Berufschancen erschweren, sollte ich mich doch nochmal
dafür entscheiden Lehrer werden zu wollen.
Für mich persönlich war das kein großes Problem, habe ich diesen früheren Traum doch
schon längst an den Nagel gehängt. Aber stellen wir uns doch mal vor, wie groß die Gruppe
an psychisch erkrankten (angehenden) Lehrer*innen ist, die aus Angst, ihren Beruf nicht
mehr ausüben zu dürfen, auf eine Therapie oder sonstige Hilfsangebote verzichten. Dies ist
zutiefst kontraproduktiv. Sollte es nicht eigentlich als positiv angesehen werden, wenn sich
jemand Hilfe sucht und um seine eigene psychische Gesundheit sorgt? Im Gegenteil,
bewirkt der Status Quo doch nur, die Anzahl derer zu vergrößern, die aufgrund zu später
oder nicht erfolgter Maßnahmen Langzeitfolgen davontragen. Dass die Burnout-Quote bei
Lehrer*innen so hoch ist, kommt nicht von ungefähr.
Volkskrankheit Stigmata
Dass sich Menschen nicht trauen, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, muss aber
nicht nur berufliche Gründe haben. Der Besuch einer Therapie ist in unserer Gesellschaft
immer noch verpönt. Wie oft durfte ich mir anhören, dass das doch alles Leute seien, die
auch gleich „in die Klapse gehören“. Oder, dass ein bisschen frische Luft und nicht so viel
nachzudenken schon reichen würden. Dazu kommt, dass man sich der Gesellschaft
gegenüber unterbewusst oder auch bewusst verpflichtet fühlt, nicht zu „gesund“ zu wirken.
Nicht zu fröhlich, nicht zu gut gelaunt, und ja nicht zu viel Spaß zu haben. Denn dann geht
es einem doch anscheinend gut, das Ganze sei ja nicht so schlimm und man übertreibe
lediglich und soll sich mal nicht so anstellen. In weiten Teilen der Gesellschaft herrscht
wenig fundiertes Wissen, dafür aber viel Meinung, über psychische Erkrankungen und ihre
Auswirkungen. Das muss sich ändern.
Auch hier zeigt sich jedoch ein Phänomen, welches ebenfalls bei körperlichen
Erkrankungen zu beobachten ist: Ableismus.
Im Zuge der Debatten rund um Corona und die dazugehörige Gefahr für bestimme
Risikogruppen, trat immer wieder Ableismus auf. Ableismus tritt dann auf, wenn Menschen
mit Behinderung oder anderen körperlichen und psychischen Einschränkungen oder
Erkrankungen von anderen Menschen ohne Behinderung auf die Merkmale reduziert
werden, in denen sie sich vom vermeintlichen Normalzustand unterscheiden.
Menschen mit bestimmten körperlichen oder psychischen Erkrankungen seien weniger
wert, heißt es dann meist unterschwellig. Corona sei ja nicht so schlimm, es beträfe ja nur
Kranke und Alte. Sollten nicht mehr genug Betten oder Beatmungsgeräte verfügbar sein,
hätten im Extremfall, der Triage, Ärzt*innen entscheiden müssen, bei welchen Patient*innen
es lohnenswerter ist, sie zu behandeln. Es hätte also wortwörtlich über Leben und Tod
entschieden werden müssen. Und auch die Ausgrenzung, Ungleichbehandlung und
Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist nichts anderes als
Ableismus. Das ist ein Problem, was im schlimmsten Falle zum Tod führen kann, wenn den
betroffenen Personen nicht oder zu spät geholfen wird.
Auch in der Politik zeigt sich, dass die Prioritäten meist ganz woanders liegen. Während es
eigentlich mehr Investitionen bräuchte, um die Kapazitäten von Prävention und Behandlung
zu verbessern, droht man dem betroffenen Sektor ständig mit Sparmaßnahmen oder
Kürzungen, wenn das Geld gerade woanders benötigt wird.
Was es braucht, ist Aufklärung auf sämtlichen Ebenen sowie eine Enttabuisierung des
Diskurses. Auch wenn dahingehend schon einiges erreicht wurde, gibt es immer noch viel
zu tun. Niemand sollte sich dafür schämen müssen, psychisch krank zu sein oder sich Hilfe
suchen zu wollen. Denn es braucht genau das Gegenteil. Psychische Erkrankungen wie
Depressionen sind zur Volkskrankheit geworden, treten aber im Diskurs immer noch als zu
vernachlässigende Randerscheinung auf. Doch das sind sie bei weitem nicht und so sollten
wir sie auch nicht länger behandeln. Es muss klar sein: Wir sind nicht weniger wert. Wir
sind nicht dazu verdammt, ein Leben am Rande der Gesellschaft leben zu müssen,
denn wir sind immer noch ein Teil von ihr, wie alle anderen auch